0-1. Szene Wien.
Ringstraßenkorso. Sirk-Ecke (28. Juni 1914)
(Anm. Am 28. Juni 1914 wird der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und
seine Frau Sophie Gräfin Chotek bei einem Besuch in der bosnischen Hauptstadt
Sarajevo von einem serbischen Nationalisten erschossen. – Der
Rinstraßenkorso: Es sieht wie eine im Dunkeln schleichende Verschwörung aus,
wenn auf der kurzen Strecke zwischen Kärntnertor und Schwarzenbergplatz, aber
nur auf der Stadtseite, jeden Abend ein unheilvolles Gedränge stattfindet, ein
cityhaftes Menschengewühl, das sich auf seine eigenen Füße tritt und Arm in Arm
mit sich selber auf und nieder wogt. […] Ganze Prozessionen von zweibeinigen
Bibern und Zobeln drücken sich an einander vorbei. An der bekannten Straßenecke,
wo Alles auf
Commando Kehrt macht, stauen sich die Gruppen von Rittern des Chic, der
Monokel-Adel, die Bügelfaltokratie. Das Gigerlthum entfaltet
alle Reize seiner durchtriebenen Einfalt.)
Sonntag, 28. Juni 1914. Ein
Sommerfeiertagabend. Leben und Treiben. Es bilden sich Gruppen.
1. Zeitungsausrufer, Korsobesucher und seine Frau, 2.
Zeitungsausrufer, 4 Offiziere, zwei Agenten, Fischl, Wiener und seine Frau,
alter Abonnent der Neuen Freien Presse, ältester Abonnent der Neuen Freien
Presse, einige Betrunkene, 4 Burschen und 4 Mädchen, Fräulein Löwenstamm
und Fräulein Körmendy, Gebildeter und seine Frau, Poldi Fesch, Wachmann, 2
Kleinbürger, 2 Reporter, Fiaker / vorübergehende Büffetdame, Tenor Fritz
Werner, Begleiter des Poldi Fesch, Fahrgast, Passanten
(0.1.1) Zeitungsausrufer
/ Korsobesucher & Frau
1. Zeitungsausrufer: Extraausgabee – ! Ermordung des
Thronfolgers! Da Täta vahaftet!
Ein Korsobesucher (zu seiner Frau): Gottlob kein Jud.
Seine Frau: Komm
nach Haus.
(Sie zieht ihn weg.)
2. Zeitungsausrufer: Extraausgabee –
! Neue Freie Presse! Die Pluttat von Serajevo! Da Täta ein Serbee!
(0.1.2) 4
Offiziere
1. Offizier:
Grüß dich Powolny! Also was sagst? Gehst (mit) in die Gartenbau?
2. Offizier (mit Spazierstock): Woher denn? (Ist
doch) G'schlossen!
1. Offizier (betroffen): G'schlossen?
3. Offizier:
Ausg'schlossen!
(1. Offizier:
Die Gartenbau?)
2. Offizier:
Wenn ich dir sag!
1. Offizier:
Also was sagst?
2. Offizier:
Na gehn mr halt (rüber) zum Hopfner.
1. Offizier:
Selbstverständlich – aber ich mein, was sagst politisch, du bist doch
gscheit –
2. Offizier:
Weißt, no wer' mr halt (fuchtelt mit dem Spazierstock) – a
bisserl a Aufmischung – gar nicht schlecht – kann gar nicht schaden
– (wird) höxte Zeit (dass wir da unten einmal tüchtig hineinfahren) –
1. Offizier:
Bist halt a Feschak. Weißt, einer wird ganz aus'n Häusl sein, der (Oberleutnant)
Fallota, der was –
4. Offizier (tritt lachend hinzu): Grüß
dich Nowotny, grüß dich Pokorny, grüß dich Powolny, also du – du bist ja
politisch gebildet, also was sagst (zu dem Attentat)?
2. Offizier:
Weißt, diese (serbische xxx) Bagasch hat Umtriebe gemacht ganz einfach.
3. Offizier:
Weißt – also natürlich.
4. Offizier:
Ganz meine Ansicht – gestern hab ich mullattiert –! habts das
Bild vom Schönpflug (in der Zeitung) gsehn, Klassikaner!
2. Offizier:
Weißt, der Fallota, das ist dir ein Patriot, der sagt immer, es genügt nicht,
daß man seine Pflicht erfüllt, man muß ein Patriot sein unter Umständ. Wenn der
sich was in den Kopf setzt, da gibts keine Würschtel. Weißt was ich glaub? Wern
mer halt (ein bissel) schwitzen müssen die Täg. No von mir aus!
3. Offizier:
Was is (jetzt) mit'n Hopfner?
4. Offizier:
Du, hast die zwei Menscher gekannt da (drüben)?
2. Offizier:
Weißt, der Schlepitschka von Schlachtentreu, der is furchtbar gebildet, der
liest dir die Presse also auswendig von A bis Z, er sagt wir sollen auch lesen,
dort steht, sagt er, wir sind für den Frieden, wenn auch nicht für den um
Frieden um jeden Preis, du is das wahr?
(Eine Büfettdame geht vorüber.)
2. Offizier:
Du schau, das ist das Mensch, wo ich dir erzählt hab, was ich umsonst gehabt
hab neulich.
(Der Schauspieler Fritz Werner geht vorüber.)
2. Offizier:
Djehre!
3. Offizier:
Du mir scheint den kenn ich nicht.
4. Offizier: Den kennst nicht? Geh mach keine
Gspaß den kennst nicht! Das is doch der (Fritz) Werner, (der Tenor vom Theater
an der Wien)!
3. Offizier: Klassisch, weißt was ich mir
eingebildet hab, ich hab mir eingebildet, das is der Treumann!
1. Offizier:
Geh hör auf! Wie kann man denn den (Louis) Treumann
mit dem (Fritz) Werner verwechseln!
2. Offizier: Siehst du, weil du nicht Logik
studiert hast – er hat doch konträr den Werner mit dem Treumann
verwechselt.
3. Offizier:
Weißt, nein – wart (denkt nach). Weißt überhaupt was meine Ansicht
is? »Husarenblut« (im Theater an der Wien) is besser wie »Herbstmanöver« (vom
Emmerich Kálmán)!
2. Offizier:
Hör auf.
1. Offizier:
Du, du bist ja furchtbar gebildet, also –
4. Offizier:
Also natürlich war das der (Fritz) Werner!
1. Offizier:
Du bist ja furchtbar gebildet –
2. Offizier:
Warum?
1. Offizier: Warst schon (im Bürgertheater) beim
»Lachenden Ehemann«? Kennst auch den (Hubert) Marischka?
2. Offizier:
Leider nicht.
1. Offizier:
Kennst auch den (Otto) Storm?
2. Offizier:
Aber selbstverständlich.
4. Offizier: Gehts, stehts nicht herum (da) bei der
Potenz-Ecken. Gehn wir (rüber) zum Hopfner, wenn also die Gartenbau (wirklich
g’schlossen ist) –
3. Offizier:
Kennst auch den (Franz) Glawatsch?
(Im Gespräch ab.)
Ein Zeitungsausrufer (kommt im Laufschritt): Tagblaad – da
Thronfolga und Gemalin ermordet bittä –!
(0.1.3) Zwei
Agenten
1. Agent: Was
fangt man (jetzt) mit dem angebrochenen Abend an?
2. Agent: Venedig
(im Prater) soll (schon) offen sein.
1. Agent: Also
schön, steig ma in eine BK (Tramway) und fahr ma (runter in’ Prater) nach
Venedig.
2. Agent: Ich weiß
nicht, ich bin doch etwas nerves, bevor man nicht gehert hat (was los is’)
–
1. Agent: Hert ma doch unten (im Prater
auch)! Im Imperial haben sie auf Melpomene getippt, den ganzen Tag gestern sind sie einem in die Ohren gelegen mit Melpomene. Aber
mise Vögel, Sie wissen doch – chab genug Lehrgeld gezahlt – dort
geht Fischl (er ruft zur Allee hinüber) Fischl, (setzen sie auch auf)
Melpomene?
Fischl: Nu na
nicht!
1. Agent: Der
Schlag soll Sie treffen.
Fischl: Nach
Ihnen. (Mein Tip:) Glaukopis (viertes Rennen) – zweiter (Platz)!
(0.1.4) Wiener
und seine Frau
Ein Wiener: (zu
seiner Frau): Aber laß dir doch sagen, er war nicht beliebt (der
Thronfolger) –
Seine Frau:
Marandjosef, warum denn?
Der Wiener: Weil er
nicht papolär war. Der (Cafetier) Riedl selber (vom Café de l’Europe) hat mir
erzählt –
(Ab.)
(0.1.5) Zwei
Abonnenten der Neuen Freien Presse
Ein alter Abonnent der Neuen Freien
Presse (im
Gespräch mit dem ältesten Abonnenten): Schöne Bescherung!
Der älteste Abonnent: Was heißt Bescherung? (Sieht sich um.) Besser
wird alles! Es wird eine Zeit (kommen) wie unter Maria Theresia kommen, sag ich
Ihnen!
Der alte Abonnent: Sagen Sie!
Der älteste Abonnent: Wenn ich Ihnen sag!
Der alte Abonnent: Ihnen gesagt! – Aber – um Gotteswillen
– Serbien! Mein Jüngster!
Der älteste Abonnent: Erstens ist ein Krieg heutzutag (völlig)
ausgeschlossen und dann – grad ihn wern sie nehmen (beim Militär)! Warum,
ma hat nicht genug andere? (murmelt) Gott, du bist gerecht! Ich –
freu mich morgen am Leitartikel (in der Neuen Freien Presse). Eine Sprache wird
er finden (der Moritz Benedikt), wie noch nie. Wie (Bürgermeister) Lueger
gestorben is, wird nix dagegen sein. Jetzt wird er (Benedikt) endlich reden
können frei von der Leber (weg), wenn auch selbstredend vorsichtig. Aber allen
wird er aus dem Herzen reden, sogar den Gojims sag ich Ihnen, und sogar den
höheren Gojims und sogar den höchsten – und denen ganz besonders. Er
(Benedikt) hat gewußt, was am Spiel steht, er jo!
Der alte Abonnent: Man soll's nicht (ver)berufen. Vielleicht (stellt sich
heraus und) is es (gar) nicht wahr.
Der älteste Abonnent: (Nicht wahr? –) Pessimist Sie!
(Beide ab.)
(0.1.6) (Revolver)
(Frau Müller: In Sarajevo
ham sie ihn mit einem Revolver niedergeschossen, gnä’ Herr. Er ist dort mit
seiner Erzherzogin im Automobil gefahren.
Gnädiger Herr: Da schau her, im
Automobil, ja, so ein Herr kann sich das erlauben und denkt gar nicht dran, wie
so eine Fahrt im Automobil unglücklich ausgehn kann. Und noch dazu in Sarajevo,
das is in Bosnien. Das ham sicher die Türken g’macht. Wir hätten ihnen halt
dieses Bosnien und Herzegowina nicht wegnehmen solln. No also. Der Herr
Erzherzog ruht also schon in Gottes Schoß. Hat er sich lang geplagt?
Frau Müller: Der Herr
Erzherzog war gleich weg, gnä’ Herr, Sie wissen ja, so ein Revolver is kein
Spaß. Unlängst hat auch ein Herr bei uns draußen mit einem Revolver gespielt
und seine ganze Familie erschossen, mitsamt dem Hausmeister, der nachschaun
gekommen ist, wer dort im dritten Stock schießt.)
(ab.)
(0.1.6) Fritz
Werner und die Fräuleins
Einige Betrunkene (drängen sich durch die Passanten):
Grüß enk Good, allamitanandaa
(allamitanandaa, Grüß enk Good)!
Nieda! Nieda mit
Serbien! Hauts es zsamm! Hoch!
Vier Burschen und vier Mädchen Arm in Arm (singen den »Prinz-Eugen-Marsch«:)
Prinz Eugen der edle Ritter,
wollt dem Kaiser wied'rum kriegen
Stadt und Festung
Belgerad!
Er ließ schlageen eene Bruckn
daaß man kont hiniebaruckn
Stadtunfestung
Belgerad –
Die Menge: Hoch!
(Fritz Werner kommt zurück und dankt grüßend)
Die Menge: (Da ist
er ja, der berühmte Künstler!) Hoch Werner!
Fräulein Löwenstamm: Geh jetzt zu ihm und bitt ihm.
Fräulein Körmendy (nähert sich): Ich bin nämlich eine große
Verehrerin und möcht um ein Autogramm –
Fritz Werner zieht einen Notizblock, beschreibt ein Blatt und überreicht es ihr.
(Ab.)
Fräulein Körmendy: So lieb war er.
Fräulein Löwenstamm: Hat er dich angeschaut? Komm weg aus dem Gedränge,
alles wegen dem Mord (Attentat). Ich schwärm nur für den (Otto) Storm (im »Unsterblichen Lump«)!
(Ab.)
(0.1.7) Ein
Gebildeter und seine Frau
Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee –! Eazheazog Franz
Ferdinand (und Gemahlin in Sarajevo ermordet) –
Ein Gebildeter:
Kolossaler Verlust wird das sein für die Theater, das Volkstheater war total
ausverkauft –
Seine Frau: Schön
verpatzter Abend, wärn wir zuhausgeblieben, aber du, du bist ja (wieder) nicht
zu halten –
Der Gebildete:
Ich staune über deinen Egoismus (an solch einem Tag), einen solchen totalen
Mangel an sozialem Empfinden hätte ich bei dir nicht vorausgesetzt.
Die Frau: Du
glaubst vielleicht, ich intressier mich nicht, selbstredend intressier ich
mich, im Volksgarten essen hat gar keinen
Sinn, wenn sowieso keine Musik (gespielt wird) is geht man gleich (runter) zu
Hartmann (am Kärtnerring) –
Der Gebildete:
Immer (du) mit deinem Essen, wer hat jetzt Gedanken (daran) – Du wirst
sehn was sich da tun wird, Kleinigkeit –
Die Frau: Wenn man
nur wird sehn können!
Der Gebildete:
Ein Begräbnis wird das doch sein, wie es noch nicht da war! Ich erinner mich
noch wie der Kronprinz (Rudolf damals) –
(Ab.)
(0.1.8) Poldi
Fesch
Poldi Fesch (zu
seinem Begleiter): Heut wird gedraht – gestern hab ich mit dem Sascha
Kolowrat gedraht, morgen drah ich mit dem –
(Ab.)
(0.1.9) Zwei
Kleinbürger
Ein Wachmann:
Bitte links, bitte links!
Ein Zeitungsausrufer: Reichspost! Zweate Oflagee! Die Ermordung des
Thronfolgapaares!
1. Kleinbürger: Leben und leben lassen! Also
natürlich für den Wiener, für den kleinen Mann, war das nicht das richtige. Wofern, das kann ich dir also aufklären, verstehst du.
Denn warum? Der Wiener is gewohnt, daß man ihm
seine Gewohnheiten loßt. Er herentgegen (der Erzherzog Franz Ferdinand, der
Thronfolger) – der Hadrawa hat ihm einmal erkannt, wie er einmal,
also natürlich im Kognito war, da is er (im Fiaker) sogar nach der Tax gfahren
(der Erzherzog) und hat Trinkgeld geben wie ein Prifater, aber nicht um a
Sexerl mehr sag ich dir.
2. Kleinbürger:
Hör auf!
1. Kleinbürger:
Und in die bessern Gschäfte hat er auch nicht mehr zahln wolln. Das war (mir) einer!
Glaubst, der hätt sich von unseran überhalten lassen? Der hätt sich hergstellt
mit unseran! Wo unseraner doch auch leben will! Nix hat er auslassn. (Kan’
luckerten Heller.) Nicht um die Burg! Also das is Gefühlssache. I sag, leben
und leben lassen und dafür stirb i. Denn warum? Der kleine Mann –
Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee –!
1. Kleinbürger:
Her mitn Bladl! kost –?
Der Zeitungsausrufer: Zehn Heller!
1. Kleinbürger:
An Schmarrn! Wurzerei. Steht eh nix drin. Du – pst – schau dir dös
Madl an, sauber, wos? Die Gspaß-laberln! Da kann sich meine Alte also natürlich
vastecken.
2. Kleinbürger:
Hör mr auf, das is eine Protestierte!
1. Kleinbürger:
Da schau her, vorm (Hotel) Bristol stehn Leut, gehma hin, da muß eine
Persönlichkeit sein.
(Ab.)
Ein Wachmann:
Bitte links, bitte links!
(0.1.10) Zwei
Reporter
1. Reporter (zu
seinem Begleiter): Hier nimmt man am besten die Stimmung auf. (Schreiben
Sie auf:)
»Wie ein Lauffeuer«,
sehn Sie, »hatte sich am Korso die Nachricht verbreitet, wo sich die Wogen
brechen. Das fröhliche Leben und Treiben, das sich sonst um diese Stunde zu
entfalten pflegte, verstummte mit einem Male, Niedergeschlagenheit; das Gefühl
tiefer Erschütterung, zumeist aber stille Trauer, konnte man von allen
Gesichtern ablesen. Unbekannte Leute sprachen einander an, man riß sich die
Extrablätter aus der Hand, es bildeten sich Gruppen – «
2. Reporter:
Da möcht ich so vorschlagen:
»In den Alleen der
Ringstraße sah man Gruppenbildungen von Leuten, die das Ereignis besprachen.
Wachleute zerstreuten die Gruppen und erklärten, daß sie weitere
Gruppenbildungen nicht dulden würden. Hierauf bildeten sich Gruppen und das
Publikum begann sich zu massieren«
– sehn Sie, dort
(drüben)!
(0.1.11) Fiaker
(Zwischen einem Fahrgast und einem Fiaker,
vor dem Hotel Bristol, hat sich ein Wortwechsel entsponnen, die Passanten
nehmen Partei, man hört Pfui-Rufe.)
Passanten: Pfui!
Pfui!!!
Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee –! Der Thronfolger und seine
Gemahlin von Verschwörern ermordet!
Der Fiaker: Aber
Euer Gnaden! An so an Tag –!
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