1-4. Szene Optimist
& Nörgler (1)
Optimist,
Nörgler
Der Optimist und der Nörgler im Gespräch.
Der Optimist: Da können Sie von Glück sagen. In (der)
Steiermark ist eine Rote-Kreuz-Schwester, deren Automobil noch ein paar Meter gerollt ist, erschossen worden.
Der Nörgler:
Dem Knecht ist Gewalt gegeben. Das wird seine Natur nicht vertragen.
Der Optimist:
Übergriffe untergeordneter Organe werden im Kriege leider nicht zu vermeiden
sein. In solcher Zeit muß aber jede Rücksicht dem einen Gedanken untergeordnet
werden: zu siegen.
Der Nörgler:
Die Gewalt, die dem Knecht gegeben ward, wird nicht ausreichen, um mit dem
Feind, wohl aber um mit dem Staat fertig zu werden.
Der Optimist:
Militarismus bedeutet Vermehrung der Staatsordnung durch Gewalt,
um –
Der Nörgler: – durch das Mittel zur
schließlichen Auflösung zu führen. Im Krieg wird jeder zum Vorgesetzten seines Nebenmenschen. Das Militär ist Vorgesetzter des
Staates, dem kein anderer Ausweg aus dem widernatürlichen Zwang bleibt als die
Korruption. Wenn der Staatsmann den Militärmann über sich schalten läßt, so ist
er der Faszination durch ein Idol der Fibel erlegen, das seine Zeit überlebt
hat und von der unsern nicht mehr ungestraft in Leben und Tod übersetzt wird.
Militärische Verwaltung ist die Verwendung des Bocks als Obergärtner und die
Verwandlung des Gärtners zum Bock.
Der Optimist:
Ich weiß nicht, was Sie zu dieser düsteren Prognose berechtigt. Sie schließen
offenbar, wie schon immer im Frieden, von unvermeidlichen Begleiterscheinungen
auf das Ganze, Sie gehen von zufälligen Ärgernissen aus, die Sie für Symptome nehmen. Die Zeit ist viel zu groß, als daß wir
uns mit Kleinigkeiten abgeben könnten.
Der Nörgler:
Aber sie werden mit ihr wachsen!
Der Optimist:
Das Bewußtsein, in einer Epoche zu leben, in der so gewaltige Dinge geschehen,
wird auch den Geringsten über sich selbst erheben.
Der Nörgler: Die kleinen Diebe, die noch nicht
gehängt wurden, werden große werden, und man wird sie laufen lassen.
Der Optimist:
Was auch der Geringste durch den Krieg gewinnen wird, ist –
Der Nörgler:
– Provision. Wer die Hand aufhält, wird auf Narben zeigen, die er nicht
hat.
Der Optimist:
Wie der Staat, der für sein Prestige den unvermeidlichen Verteidigungskampf auf
sich nimmt, Ehre gewinnt, so auch jeder einzelne, und was durch das jetzt
vergossene Blut in die Welt kommen wird, ist –
Der Nörgler:
Schmutz.
Der Optimist:
Ja, Sie, der Sie ihn überall gesehen haben, fühlen, daß Ihre Zeit um ist!
Verharren Sie nur nörgelnd wie eh und je in Ihrem Winkel – wir anderen
gehen einer Ära des Seelenaufschwunges entgegen! Merken Sie denn nicht, daß
eine neue, eine große Zeit angebrochen ist?
Der Nörgler: Ich habe sie noch gekannt, wie sie so klein war, und
sie wird es wieder werden. (Die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch
Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachstums derlei
Verwandlung nicht möglich ist, lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch
schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser Zeit, in der eben das geschieht, was
man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muß, was man sich nicht
mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht –; in dieser
ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Möglichkeit, daß sie ernst
werden könnte; von ihrer Tragik überrascht, nach Zerstreuung langt, und sich
selbst auf frischer Tat ertappend, nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit,
die da dröhnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Berichte
hervorbringen, und der Berichte, welche Taten verschulden: in dieser da mögen
Sie von mir kein eigenes Wort erwarten. Keines außer diesem, das eben noch
Schweigen vor Mißdeutung bewahrt. Zu tief sitzt mir die Ehrfurcht vor der
Unabänderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Unglück. In den Reichen
der Phantasiearmut, wo der Mensch an seelischer Hungersnot stirbt, ohne den
seelischen Hunger zu spüren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte,
muß das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur gedacht
wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein eigenes Wort. Weder vermöchte
ich ein neues zu sagen; denn im Zimmer, wo einer schreibt, ist der Lärm so
groß, und ob er von Tieren kommt, von Kindern oder nur von Mörsern, man soll es
jetzt nicht entscheiden.)
Der Optimist: Können Sie jetzt noch negieren?
Hören Sie nicht den Jubel? Sehen Sie nicht die Begeisterung? Kann ein fühlendes
Herz sich ihr entziehen? Sie sind das einzige. Glauben Sie, daß die große Gemütsbewegung der Massen nicht ihre Früchte tragen, daß diese herrliche Ouvertüre ohne
Fortsetzung bleiben wird? Die heute jauchzen –
Der Nörgler:
– werden morgen klagen.
Der Optimist:
Was gilt das einzelne Leid! So wenig wie das einzelne Leben. Der Blick des
Menschen ist endlich wieder emporgerichtet. Man lebt nicht nur für materiellen
Gewinn, sondern auch –
Der Nörgler:
– für Orden.
Der Optimist:
Der Mensch lebt nicht vom Brote allein.
Der Nörgler:
Sondern er muß auch Krieg führen, um es nicht zu haben.
Der Optimist:
Brot wirds immer geben! Wir leben aber von der Hoffnung auf den Endsieg, an dem
nicht zu zweifeln ist und vor dem wir –
Der Nörgler:
Hungers sterben werden.
Der Optimist:
Welch ein Kleinmut! Wie beschämt werden Sie einst dastehn! Verschließen Sie
sich nicht, wo Feste gefeiert werden! Die Pforten der Seele sind aufgetan. Das
Gedächtnis der Tage, in denen das Hinterland wenn auch nur durch Empfang des
täglichen Berichtes Anteil an den Taten und Leiden einer glorreichen Front
nahm, wird der Seele –
Der Nörgler:
– keine Narbe zurücklassen.
Der Optimist:
Die Völker werden aus dem Kriege nur lernen –
Der Nörgler:
– daß sie ihn künftig nicht unterlassen sollen.
Der Optimist:
Die Kugel ist aus dem Lauf und wird der Menschheit –
Der Nörgler:
– bei einem Ohr hinein und beim andern hinausgegangen sein!
(Wer Taten zuspricht, schändet Wort und Tat und ist zweimal verächtlich.
Der Beruf dazu ist nicht ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil
die Tat das Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und
schweige! Auch alte Worte darf ich nicht hervorholen, solange Taten geschehen,
die uns neu sind und deren Zuschauer sagen, daß sie ihnen nicht zuzutrauen
waren. Mein Wort konnte Rotationsmaschinen übertönen, und wenn es sie nicht zum
Stillstand gebracht hat, so beweist das nichts gegen mein Wort. Selbst die
größere Maschine hat es nicht vermocht und das Ohr, das die Posaune des
Weltgerichts vernimmt, verschließt sich noch lange nicht den Trompeten des
Tages. Nicht erstarrte vor Schreck der Dreck des Lebens, nicht erbleichte
Druckerschwärze vor so viel Blut. Sondern das Maul schluckte die vielen
Schwerter und wir sahen nur auf das Maul und maßen das Große nur an dem Maul.
Und Gold für Eisen fiel vom Altar in die Operette, der Bombenwurf war ein
Couplet, und 15 000 Gefangene gerieten in eine Extraausgabe, die eine
Soubrette vorlas, damit ein Librettist gerufen werde.
Mir Unersättlichem, der des Opfers nicht genug hat, ist die vom Schicksal
befohlene Linie nicht erreicht. Krieg ist mir erst, wenn nur die, die nicht
taugen, in ihn geschickt werden. Sonst hat mein Frieden keine Ruhe, ich richte
mich heimlich auf die große Zeit ein und denke mir etwas, was ich nur dem
lieben Gott sagen kann und nicht dem lieben Staat, der es mir jetzt nicht
erlaubt, ihm zu sagen, daß er zu tolerant ist. Denn wenn er jetzt nicht auf die
Idee kommt, die sogenannte Preßfreiheit, die ein paar weiße Flecke nicht spürt,
zu erwürgen, so wird er nie mehr auf die Idee kommen, und wollte ich ihn jetzt
auf die Idee bringen, er vergriffe sich an der Idee und mein Text wäre das
einzige Opfer. Also muß ich warten, wiewohl ich doch der einzige Österreicher
bin, der nicht warten kann, sondern den Weltuntergang durch ein schlichtes Autodafé
ersetzt sehen möchte. Die Idee, auf welche ich die tatsächlichen Inhaber der
nominellen Gewalt bringen will, ist nur eine fixe Idee von mir. Aber durch fixe
Ideen wird ein schwankender Besitzstand gerettet, wie eines Staates so einer
Kulturwelt. Man glaubt einem Feldherrn die Wichtigkeit von Sümpfen so lange
nicht, bis man eines Tages Europa nur noch als Umgebung der Sümpfe betrachtet.
Ich sehe von einem Terrain nur die Sümpfe, von ihrer Tiefe nur die Oberfläche,
von einem Zustand nur die Erscheinung, von der nur einen Schein und selbst
davon bloß den Kontur. Und zuweilen genügt mir ein Tonfall oder gar nur die
Wahnvorstellung. Tue man mir, spaßeshalber, einmal den Gefallen, mir auf die
Oberfläche zu folgen dieser problemtiefen Welt, die erst erschaffen wurde, als
sie gebildet wurde, die sich um ihre eigene Achse dreht und wünscht, die Sonne
drehte sich um sie.
Über jenem erhabenen Anschlag (Manifest), jenem Gedicht, das die
tatenvolle Zeit eingeleitet, dem einzigen Gedicht, das sie bis nun
hervorgebracht hat, über dem menschlichsten Anschlag, den die Straße unserm
Auge widerfahren lassen konnte, hängt der Kopf eines Varietékomikers,
überlebensgroß. Daneben aber schändet ein Gummiabsatzerzeuger das Mysterium der
Schöpfung, indem er von einem strampelnden Säugling aussagt, so, mit dem
Erzeugnis seiner, ausgerechnet seiner Marke, sollte der Mensch auf die Welt
kommen. Wenn ich nun der Meinung bin, daß der Mensch, da die Dinge so liegen,
lieber gar nicht auf die Welt kommen sollte, so bin ich ein Sonderling. Wenn
ich jedoch behaupte, daß der Mensch unter solchen Umständen künftig überhaupt
nicht mehr auf die Welt kommen wird und daß späterhin vielleicht noch die
Stiefelabsätze auf die Welt kommen werden, aber ohne den dazugehörigen
Menschen, weil er mit der eigenen Entwicklung nicht Schritt halten konnte und
als das letzte Hindernis seines Fortschritts zurückgeblieben ist – wenn
ich so etwas behaupte, bin ich ein Narr, der von einem Symptom gleich auf den
ganzen Zustand schließt, von der Beule auf die Pest. Wäre ich kein Narr,
sondern ein Gebildeter, so würde ich vorn Bazillus und nicht von der Beule so
kühne Schlüsse ziehen und man würde mir glauben. Wie närrisch gar, zu sagen, daß
man, um sich von der Pest zu befreien, die Beule konfiszieren soll. Ich bin
aber wirklich der Meinung, daß in dieser Zeit, wie immer wir sie nennen und
werten mögen, ob sie nun aus den Fugen ist oder schon in der Einrichtung, ob
sie erst vor dem Auge eines Hamlet Blutschuld und Fäulnis häuft oder schon für
den Arm eines Fortinbras reift – daß in ihrem Zustand die Wurzel an der
Oberfläche liegt. Solches kann durch ein großes Wirrsal klar werden, und was ehedem
paradox war, wird nun durch die große Zeit bestätigt. Da ich weder Politiker
bin, noch sein Halbbruder Ästhet, so fällt es mir nicht ein, die Notwendigkeit
von irgend etwas, das geschieht, zu leugnen oder mich zu beklagen, daß die
Menschheit nicht in Schönheit zu sterben verstehe. Ich weiß wohl, Kathedralen
werden mit Recht von Menschen beschossen, wenn sie von Menschen mit Recht als
militärische Posten verwendet werden. Kein Ärgernis in der Welt, sagt Hamlet.
Nur daß ein Höllenschlund sich zu der Frage öffnet: Wann hebt die größere Zeit
des Krieges an – der Kathedralen gegen Menschen! Ich weiß genau, daß es
zuzeiten notwendig ist, Absatzgebiete in Schlachtfelder zu verwandeln, damit
aus diesen wieder Absatzgebiete werden. Aber eines trüben Tages sieht man
heller und fragt, ob es denn richtig ist, den Weg, der von Gott wegführt, so
zielbewußt mit keinem Schritte zu verfehlen. Und ob denn das ewige Geheimnis,
aus dem der Mensch wird, und jenes, in das er eingeht, wirklich nur ein
Geschäftsgeheimnis umschließen, das dem Menschen Überlegenheit verschafft vor
dem Menschen und gar vor des Menschen Erzeuger. Wer den Besitzstand erweitern
will und wer ihn nur verteidigt – beide leben im Besitzstand, stets unter
und nie über dem Besitzstand. Der eine fatiert ihn, der andere erklärt ihn.
Wird uns nicht bange vor irgend etwas über dem Besitzstand, wenn Menschenopfer
unerhört geschaut, gelitten wurden und hinter der Sprache des seelischen
Aufschwungs, im Abklang der berauschenden Musik, zwischen irdischen und
himmlischen Heerscharen, eines fahlen Morgens das Bekenntnis durchbricht: »Was
jetzt zu geschehen hat, ist, daß der Reisende fortwährend die Fühlhörner
ausstreckt und die Kundschaft unaufhörlich abgetastet wird!« Menschheit ist
Kundschaft. Hinter Fahnen und Flammen, hinter Helden und Helfern, hinter allen
Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an dem die fromme Wissenschaft die
Hände ringt: Gott schuf den Konsumenten! Aber Gott schuf den Konsumenten nicht,
damit es ihm wohl ergehe auf Erden, sondern zu einem Höheren: damit es dem
Händler wohl ergehe auf Erden, denn der Konsument ist nackt erschaffen und wird
erst, wenn er Kleider verkauft, ein Händler. Die Notwendigkeit, zu essen, um zu
leben, kann philosophisch nicht bestritten werden, wiewohl die Öffentlichkeit
dieser Verrichtung von einem unablegbaren Mangel an Schamgefühl zeugt. Kultur
ist die stillschweigende Verabredung, das Lebensmittel hinter den Lebenszweck
abtreten zu lassen. Zivilisation ist die Unterwerfung des Lebenszwecks unter
das Lebensmittel. Diesem Ideal dient der Fortschritt und diesem Ideal liefert
er seine Waffen. Der Fortschritt lebt, um zu essen, und beweist zuzeiten, daß
er sogar sterben kann, um zu essen. Er erträgt Mühsal, damit es ihm wohl
ergehe. Er wendet Pathos an die Prämissen. Die äußerste Bejahung des
Fortschritts gebietet nun längst, daß das Bedürfnis sich nach dem Angebot
richte, daß wir essen, damit der andere satt werde, und daß der Hausierer noch
unsern Gedanken unterbreche, wenn er uns bietet, was wir gerade nicht brauchen.
Der Fortschritt, unter dessen Füßen das Gras trauert und der Wald zu Papier
wird, aus dem die Blätter wachsen, er hat den Lebenszweck den Lebensmitteln
subordiniert und uns zu Hilfsschrauben unserer Werkzeuge gemacht. Der Zahn der
Zeit ist hohl; denn als er gesund war, kam die Hand, die vom Plombieren lebt.
Wo alle Kraft angewandt wurde, das Leben reibungslos zu machen, bleibt nichts
übrig, was dieser Schonung noch bedarf. In solcher Gegend kann die
Individualität leben, aber nicht mehr entstehen. Mit ihren Nervenwünschen mag
sie dort gastieren, wo im Komfort und Fortkommen rings Automaten ohne Gesicht
und Gruß vorbei und vorwärtsschieben. Als Schiedsrichter zwischen Naturwerten
wird sie anders entscheiden. Gewiß nicht für die hiesige Halbheit, die ihr
Geistesleben für die Propaganda ihrer Ware gerettet, sich einer Romantik der
Lebensmittel ergeben und »die Kunst in den Dienst des Kaufmanns« gestellt hat.
Die Entscheidung fällt zwischen Seelenkräften und Pferdekräften. Vom Betrieb
kommt keine Rasse ungeschwächt zu sich selbst, höchstens zum Genuß. Die
Tyrannei der Lebensnotwendigkeit gönnt ihren Sklaven dreierlei Freiheit: vom
Geist die Meinung, von der Kunst die Unterhaltung und von der Liebe die
Ausschweifung. Es gibt, Gott sei gedankt, noch Güter, die stecken bleiben, wenn
Güter immer rollen sollen. Denn Zivilisation lebt am Ende doch von Kultur. Wenn
die entsetzliche Stimme, die in diesen Tagen das Kommando übergellen darf, in
der Sprache ihrer zudringlichen Phantastik den Reisenden auffordert, die
Fühlhörner auszustrecken und im Pulverdampf die Kundschaft abzutasten, wenn sie
vor dem Unerhörten sich den heroischen Entschluß abringt, die Schlachtfelder
für die Hyänen zu reklamieren, so hat sie etwas von jener trostlosen
Aufrichtigkeit, mit der der Zeitgeist seine Märtyrer begrinst. Wohl, wir opfern
uns auf für die Fertigware, wir konsumieren und leben so, daß das Mittel den
Zweck konsumiere. Wohl, wenn ein Torpedo uns frommt, so sei es eher erlaubt,
Gott zu lästern als ein Torpedo! Und Notwendigkeiten, die sich eine im
Labyrinth der Ökonomie verirrte Welt gesetzt hat, fordern ihre Blutzeugen und
der gräßliche Leitartikler der Leidenschaften, der registrierende Großjud, der
Mann, der an der Kassa der Weltgeschichte sitzt, nimmt Siege ein und notiert
täglich den Umsatz in Blut und hat in Kopulierungen und Titeln, aus denen die
Profitgier gellt, einen Ton, der die Zahl von Toten und Verwundeten und
Gefangenen als Aktivpost einheimst, wobei er zuweilen mein und dein und Stein
und Bein verwechselt, aber so frei ist, mit leiser Unterstreichung seiner
Bescheidenheit und vielleicht in Übereinstimmung mit den Eindrücken aus
eingeweihten Kreisen und ohne die Einbildungskraft beiseite zu lassen,
»Laienfragen und Laienantworten« strategisch zu unterscheiden. Und wenn er es
dann wagt, über dem ihm so wohltuenden Aufschwung heldischer Gefühle seinen
Segen zu sprechen und Gruß und Glückwunsch der Armee zu entbieten und seine
»braven Soldaten« im Jargon der Leistungsfähigkeit und wie am Abend eines
zufriedenen Börsentags zu ermuntern, so gibt es angeblich »nur eine Stimme«,
die daran Ärgernis nimmt, wirklich nur eine, die es heute ausspricht –
aber was hilft's, solange es die eine Stimme gibt, deren Echo nichts anderes
sein müßte als ein Sturm der Elemente, die sich aufbäumen vor dem Schauspiel,
daß eine Zeit den Mut hat, sich groß zu nennen, und solchem Vorkämpfer kein
Ultimatum stellt!
Die Oberfläche sitzt und klebt an der Wurzel. Die Unterwerfung der
Menschheit unter die Wirtschaft hat ihr nur die Freiheit zur Feindschaft
gelassen, und schärfte ihr der Fortschritt die Waffen, so schuf er ihr die mörderischeste
vor allen, eine, die ihr jenseits ihrer heiligen Notwendigkeit noch die letzte
Sorge um ihr irdisches Seelenheil benahm: die Presse. Der Fortschritt, der auch
über die Logik verfügt, entgegnet, die Presse sei auch nichts anderes als eine
der Berufsgenossenschaften, die von einem vorhandenen Bedürfnis leben. Aber
wenn es so wahr ist wie es richtig ist, und ist die Presse nichts weiter als
ein Abdruck des Lebens, so weiß ich Bescheid, denn ich weiß dann, wie dieses
Leben beschaffen ist. Und dann fällt mir zufällig bei, an einem trüben Tage
wird es klar, daß das Leben nur ein Abdruck der Presse ist. Habe ich das Leben
in den Tagen des Fortschritts unterschätzen gelernt, so mußte ich die Presse
überschätzen. Was ist sie? Ein Bote nur? Einer, der uns auch mit seiner Meinung
belästigt? Durch seine Eindrücke peinigt? Uns mit der Tatsache gleich die
Vorstellung mitbringt? Durch seine Details über Einzelheiten von Meldungen über
Stimmungen oder durch seine Wahrnehmungen über Beobachtungen von Einzelheiten
über Details und durch seine fortwährenden Wiederholungen von all dem uns bis
aufs Blut quält? Der hinter sich einen Troß von informierten, unterrichteten,
eingeweihten und hervorragenden Persönlichkeiten schleppt, die ihn beglaubigen,
ihm Recht geben sollen, wichtige Schmarotzer am Überflüssigen? Ist die Presse
ein Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie erhebt nicht nur
den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse
seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der
Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie verrichtet werden,
oft auch die Möglichkeit davon, und jedenfalls der Zustand, daß zwar Kriegsberichterstatter
nicht zuschauen dürfen, aber Krieger zu Berichterstattern werden. In diesem
Sinne lasse ich mir gern nachsagen, daß ich mein Lebtag die Presse überschätzt
habe. Sie ist kein Dienstmann – wie könnte ein Dienstmann auch so viel
verlangen und bekommen –, sie ist das Ereignis. Wieder ist uns das
Instrument über den Kopf gewachsen. Wir haben den Menschen, der die
Feuersbrunst zu melden hat und der wohl die untergeordnetste Rolle im Staat
spielen müßte, über die Welt gesetzt, über den Brand und über das Haus, über
die Tatsache und über unsere Phantasie. Aber wie Kleopatra sollten wir dafür
auch, neugierig und enttäuscht, den Boten schlagen für die Botschaft. Sie macht
ihn, der ihr eine verhaßte Heirat meldet und die Meldung ausschmückt, für die
Heirat verantwortlich. »Laß reiche Zeitung strömen in mein Ohr, das lange brach
gelegen ... Die giftigste von allen Seuchen dir! Was sagst du? Fort, elender
Wicht! Sonst schleudr' ich deine Augen wie Bälle vor mir her; raufe dein Haar,
lasse mit Draht dich geißeln, brühn mit Salz, in Lauge scharf gesättigt.«
(Schlägt ihn.) »Gnäd',ge Fürstin, ich, der die Heirat melde, schloß sie nicht.«
Aber der Reporter schließt die Heirat, zündet das Haus an und macht die Greuel,
die er erlügt, zur Wahrheit. Er hat durch jahrzehntelange Übung die Menschheit
auf eben jenen Stand der Phantasienot gebracht, der ihr einen Vernichtungskrieg
gegen sich selbst ermöglicht. Er kann, da er ihr alle Fähigkeit des Erlebnisses
und dessen geistiger Fortsetzung durch die maßlose Promptheit seiner Apparate
erspart hat, ihr eben noch den erforderlichen Todesmut einpflanzen, mit dem sie
hineinrennt. Er hat den Abglanz heroischer Eigenschaften zur Verfügung und
seine mißbrauchte Sprache verschönt ein mißbrauchtes Leben, als ob die Ewigkeit
sich ihren Höhepunkt erst für das Zeitalter aufgespart hätte, wo der Reporter
lebt. Ahnen aber Menschen, welches Lebens Ausdruck die Zeitung ist? Eines, das
längst ein Ausdruck ist von mir! Ahnt man, was ein halbes Jahrhundert dieser
freigelassenen Intelligenz an gemordetem Geist, geplündertem Adel und geschändeter
Heiligkeit verdankt? Weiß man denn, was der Sonntagsbauch einer solchen
Rotationsbestie an Lebensgütern verschlungen hat, ehe er 250 Seiten dick
erscheinen konnte? Denkt man, wie viel Veräußerung systematisch, telegraphisch,
telephonisch, photographisch gezogen werden mußte, um einer Gesellschaft, die
zu inneren Möglichkeiten noch bereit stand, vor der winzigsten Tatsache jenes
breite Staunen anzugewöhnen, das in der abscheulichen Sprache dieser Boten ihre
Klischees findet, wenn sich irgendwo »Gruppen bildeten« oder gar das Publikum
»sich zu massieren« anfing? Da das ganze neuzeitliche Leben unter den Begriff
einer Quantität gestellt ist, die gar nicht mehr gemessen wird, sondern immer
schon erreicht ist und der schließlich nichts übrig bleiben wird, als sich
selbst zu verschlingen; da der selbstverständliche Rekord keine Zweifel mehr
übrig läßt und die qualvolle Vollständigkeit jedes Weiterrechnen erspart, so
ist die Folge, daß wir, erschöpft durch die Vielheit, für das Resultat nichts
mehr übrig haben, und daß in einer Zeit, in der wir täglich zweimal in zwanzig
Wiederholungen von allen Äußerlichkeiten noch die Eindrücke von den Eindrücken
vorgesetzt bekommen, die große Quantität in Einzelschicksale zerfällt, die nur
die einzelnen spüren, und plötzlich, selbst an der Spitze, der vergönnte Heldentod
als grausames Geschick fatiert wird. Man könnte aber einmal dahinter kommen,
welch kleine Angelegenheit so ein Weltkrieg war neben der geistigen
Selbstverstümmelung der Menschheit durch ihre Presse, und wie er im Grund nur
eine ihrer Ausstrahlungen bedeutet hat. Vor einigen Jahrzehnten mochte ein
Bismarck, auch ein Überschätzer der Presse, noch erkennen: »Das, was das
Schwert uns Deutschen gewonnen hat, wird durch die Presse wieder verdorben«,
und ihr die Schuld an drei Kriegen beimessen. Heute sind die Zusammenhänge
zwischen Katastrophen und Redaktionen viel tiefere und darum weniger klare.
Denn im Zeitalter derer, die es mitmachen, ist die Tat stärker als das Wort,
aber stärker als die Tat ist der Schall. Wir leben vom Schall und in dieser
umgeworfenen Welt weckt das Echo den Ruf. In der Organisation des Schalls ist
die Schwäche wunderbarer Verwandlung fähig. Der Staat kann es brauchen, aber
die Welt hat nichts davon. Bismarck hat zu einer Zeit, wo der Fortschritt in
den Kinderschuhen steckte und noch nicht auf Gummiabsätzen durch die Kultur
schlich, es geahnt. »Jedes Land«, sagte er, »ist auf die Dauer doch für die
Fenster, die seine Presse einschlägt, irgend einmal verantwortlich.« Ferner:
»Die Presse ist in Wien schlimmer, als ich mir vorgestellt hatte, und in der
Tat noch übler und von böserer Wirkung als die preußische.« Er sprach es aus,
daß der Korrespondent, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, er habe keine
guten Verbindungen, entweder die eigenen Erfindungen oder die der Gesandtschaft
lanciere. Gewiß, wir alle hängen vor allem von den Interessen dieser einen
Branche ab. Wenn man die Zeitung nur zur Information liest, erfährt man nicht
die Wahrheit, nicht einmal die Wahrheit über die Zeitung. Die Wahrheit ist, daß
die Zeitung keine Inhaltsangabe ist, sondern ein Inhalt, mehr als das, ein
Erreger. Bringt sie Lügen über Greuel, so werden Greuel daraus. Mehr Unrecht in
der Welt, weil es eine Presse gibt, die es erlogen hat und die es beklagt!
Nicht Nationen schlagen einander: sondern die internationale Schande, der
Beruf, der nicht trotz seiner Unverantwortlichkeit, sondern vermöge seiner
Unverantwortlichkeit die Welt regiert, teilt Wunden aus, quält Gefangene, hetzt
Ausländer, macht Gentlemen zu Rowdies. Nur durch die Vollmacht der
Charakterlosigkeit, die in Verbindung mit einem schuftigen Willen
Druckerschwärze unmittelbar in Blut verwandeln kann. Letztes, unheiliges Wunder
der Zeit! Zuerst war alles Lüge, die immer auch log, daß nur anderwärts gelogen
werde, und jetzt, in die Neurasthenie des Hasses geworfen, ist alles wahr. Es
gibt verschiedene Nationen, aber es gibt nur eine Presse. Die Depesche ist ein
Kriegsmittel wie die Granate, die auch auf keinen Sachverhalt Rücksicht nimmt.
Ihr glaubt; aber jene wissen es besser, und ihr müßt daran glauben. Die Helden
der Zudringlichkeit, Leute, mit denen sich kein Krieger in einen Schützengraben
legen würde, wohl aber von ihnen dort interviewen lassen muß, brechen in eben
verlassene Königsschlösser ein, um melden zu können: »Wir waren die ersten!«
Für Greueltaten bezahlt zu werden, wäre bei weitem nicht so schimpflich wie für
deren Erfindung. Bravos im übertragenen Wirkungskreis, die zuhaus sitzen, wenn
sie nicht das Glück haben, in einem Pressequartier Anekdoten zu erzählen oder
bis in die Front vordringlich zu sein, sie bringen den Völkern Tag für Tag und
solange das Gruseln bei, bis diese es mit einiger Berechtigung wirklich
empfinden. Von der Quantität, die der Inhalt dieser Zeit ist, fällt auf jeden
von uns ein Teil, das er gefühlsmäßig verarbeitet, und das Gemeinsame wird uns
durch Draht und Kino so anschaulich gemacht, daß wir zufrieden nachhause gehen.
Hat uns aber der Reporter durch seine Wahrheit die Phantasie umgebracht, so
rückt er uns ans Leben durch seine Lüge. Seine Phantasie ist der grausamste
Ersatz für die, welche wir einmal hatten. Denn haben die einen dort behauptet,
daß die andern Frauen und Kinder töten, so glauben es beide und tun es. Fühlt
man noch nicht, daß das Wort eines zuchtlosen Subjekts, brauchbar in den Tagen
der Manneszucht, weiter trägt als ein Mörser, und daß die seelischen Festungen
dieser Zeit eine Konstruktion sind, die im Ernstfall versagt? Hätten die
Staaten die Einsicht, mit der allgemeinen Wehrpflicht vorlieb zu nehmen und auf
die Telegramme zu verzichten – wahrlich, ein Weltkrieg wäre gelinder.
Hätten sie gar den Mut, vor Ausbruch eines solchen die Vertreter des andern
Handwerks auf einen international vereinbarten Schindanger zu treiben, wer
weiß, jener bliebe den Nationen erspart! Aber ehe Journalisten und die von
ihnen benützten Diplomaten abrüsten, müssen Menschen es büßen. »Manches, das in
den Zeitungen steht, ist denn doch wahr«, hat Bismarck gesagt. Es gibt ja auch
noch etwas unter dem Strich, dort arbeiten unsere braven Feuilletonisten,
verrichten Gebete in der Schlacht für Honorar, küssen Bundesbrüder auf den
Mund, preisen den herrlichen »Tumult« unserer Tage, bewundern die Ordnung, wie
sie früher die Gemütlichkeit verehrt haben, vergleichen eine Festung mit einer
schönen Frau oder umgekehrt, je nachdem, und benehmen sich überhaupt der großen
Zeit würdig. Da schildert einer, ein Auswärtiger, unter dem Titel »Furchtbare
Tage«, serienweise seine Erlebnisse in einer Hauptstadt, die er verlassen
mußte. Die äußeren Schrecken bestanden darin, daß man ihm zugeredet hat,
abzureisen, ihm für 1000 Mark nur 1200 Francs geben wollte und vor allem, daß
kein Taxameter zu haben war, was in andern Verkehrszentren auch schon vor einer
allgemeinen Mobilisierung vorkommen soll. Sonst kann er – man traut
seinen Ohren nicht – nicht genug Rühmliches von der Ruhe, Rücksicht, ja
Barmherzigkeit der einheimischen Bevölkerung aussagen, von der wir doch in
Telegrammen erfahren hatten, sie hätte sich wie losgelassene Panther und Wölfe
einer bei einem Eisenbahnunglück beschädigten Menagerie benommen, kurz, daß es
dort vor dem Krieg annähernd so zugegangen sei, wie anderswo nach einem
Konzert. Telegramme sind Kriegsmittel Mit Feuilletons nimmt man es nicht so
genau, da kann die Wahrheit durchrutschen. Aber wenn sie erscheint, ist sie
vielleicht wieder unwahr, weil inzwischen Telegramme erschienen sind und das
Ihrige getan haben, den Telegrammen recht zu geben und die Wirklichkeit zu berichtigen.
Oder meint man, dieser Nordau habe schöngefärbt, weil er sich für den Frieden
die Rückkehr auf den Platz schon jetzt sichern wollte? Dann disponiert eben der
Journalismus über das Leben, je nachdem er nur seinen Vorteil oder auch den
Nachteil der andern sucht. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß es in Kriegszeiten
außer der Arbeit, welche die solide Waffe verrichtet, noch die Leistungen gibt,
die Wort und Gelegenheit vollbringen. Greuel, die die Bevölkerung feindlicher
Staaten verübt, sind von gemeiner oder von ganz gemeiner, also gebildeter Herkunft,
Pöbel und Presse stehen über den nationalen Interessen. Jener plündert und
diese telegraphiert. Und wenn diese telegraphiert, so fühlt sich jener
animiert, und was Redaktionen beschlossen haben, vergelten und büßen Nationen.
»Repressalien« ist das, womit der Presse geantwortet wird. Sie übertreibt den
Zustand der Welt, nachdem sie ihn erschaff en hat. Ist sie sein Ausdruck nur,
so ist der Zustand furchtbar genug. Aber sie ist sein Erreger. Sie hat in
Österreich den sterilen Zeitvertreib des »Nationalitätenhaders« erfunden und
unterhalten, um unbemerkt das Geschäft ihres schändlichen Intellekts
hochzubringen; hat sie es so weit gebracht wie sie wollte, so gibt sie für
späteren Gewinn ihren Patriotismus in Kost; sie kauft Werte im Zusammensturz,
sie ist ein Phönix, der aus fremder Asche farbenprächtig aufsteigt. Laßt mich
die Presse überschätzen! Aber wenn ich zu Unrecht behaupte, daß in einer
Epoche, die so leicht geneigt ist, die Extraausgabe für das Ereignis zu halten,
und die mit entzündeten Nerven sich von Lügen zu Fakten verleiten läßt –
wenn es nicht wahr ist, daß aus Telegrammen mehr Blut geflossen ist, als sie
enthalten wollten, so komme dieses Blut über mich!
»Möge es das letztemal sein«, rief Bismarck, »daß die Errungenschaften
des preußischen Schwertes mit freigiebiger Hand weggegeben werden, um die
nimmersatten Anforderungen eines Phantoms zu befriedigen, welches unter dem
fingierten Namen von Zeitgeist oder öffentlicher Meinung die Vernunft der
Fürsten und Völker mit seinem Geschrei betäubt, bis jeder sich vor dem Schatten
des anderen fürchtet und alle vergessen, daß unter der Löwenhaut des Gespenstes
ein Wesen steckt von zwar lärmender, aber wenig furchtbarer Natur.« Er sagte es
im Jahre 1849. Wie furchtbar ist diese Harmlosigkeit in den 65 Jahren
erwachsen! Daß sie vor Taten, die sie angestiftet hat, nicht verstummt, zeigt,
für wen sie sie getan hofft. Die Maschine hat Gott den Krieg erklärt und findet
zwischen den Leistungen, die ich ihr stets zugetraut habe, immer noch Worte,
und die Zeit mißt sich und staunt, wie groß sie über Nacht geworden sei. Aber
sie war es wohl immer, und ich habe es nur nicht bemerkt. Also war es ein
Fehler meiner Optik, sie klein zu sehen. Indes, »Übelstände« wegzuputzen, die
an der Oberfläche wuchern, hinter der ein Großes lebt – die Aufgabe wäre
mir zu klein, der fühle ich mich nicht gewachsen. Einer fragte neulich, wo ich
denn bleibe, und bat, uns mit Rücksicht auf die neue Zeit von dem alten Schmutz
zu befreien. Ich kann nicht. Großes, Elementares muß die Kraft haben, von
selber mit den Übelständen fertig zu werden und bedarf dazu nicht der Anregung
und Hilfe eines Schriftstellers. Aber dieses Große, Elementare hat, da bereits
sein Schein in alle Augen stach, es noch immer nicht vermocht. Was sehen wir?
Das Große hat Begleiterscheinungen. Wenn die Folgen auf ihrer Höhe sein werden,
dann Gnade uns! Das Große hat die Begleiterscheinungen nicht über Nacht kaputt
gemacht. Daß Bomben mit Witzen abgesetzt werden und Animierkneipen ein
42-Mörser-Programm ankündigen, zeigt uns, wie konservativ und wie aktuell wir
sind. Nicht das Vorkommnis, sondern die Anästhesie, die es ermöglicht und
erträgt, gibt Aufschluß. Wie der uns eingefleischte Humor mit dem Übermaß des
Bluts sich abfindet, wissen wir. Aber der Geist? Wie bekommt es unsern Dichtern
und Denkern? Und wenn sich die Welt auf den Kopf stellt, es fällt ihr nichts
besseres ein! Und wenn sich die Welt zerfleischt, es kommt kein Geist heraus!
Er wird später nicht erscheinen; denn er hätte sich jetzt verbergen, durch
verschwiegene Würde sich äußern müssen. Aber wir sehen rings im kulturellen
Umkreis nichts als das Schauspiel, wie der Intellekt auf das Schlagwort
einschnappt, wenn die Persönlichkeit nicht die Kraft hat, schweigend in sich
selbst zu beruhen. Die freiwillige Kriegsdienstleistung der Dichter ist ihr
Eintritt in den Journalismus. Hier steht ein Hauptmann, stehen die Herren
Dehmel und Hofmannsthal, mit Anspruch auf eine Dekoration in der vordersten
Front und hinter ihnen kämpft der losgelassene Dilettantismus. Noch nie vorher
hat es einen so stürmischen Anschluß an die Banalität gegeben und die Aufopferung
der führenden Geister ist so rapid, daß der Verdacht entsteht, sie hätten kein
Selbst aufzuopfern gehabt, sondern handelten vielmehr aus der heroischen
Überlegung, sich dorthin zu retten, wo es jetzt am sichersten ist: in die
Phrase. Trostlos ist nur, wie die Literatur nicht ihre Zudringlichkeit fühlt
und nicht die Überlegenheit des Bürgers, der in der Phrase das ihm zustehende
Erlebnis findet. Zu einer fremden und vorhandenen Begeisterung Reime und noch
dazu schlechte zu suchen, gegen eine Rotte eine Flotte zu stellen und von den
Horden zu bestätigen, daß sie morden, ist wohl die dürftigste Leistung, die die
Gesellschaft in drangvoller Zeit von ihren Geistern erwarten konnte. Das unartikulierte
Geräusch, das von den feindlichen Dichtern zu uns herüberkam, bedeutet
wenigstens einen Beweis für individuell gefühlte Erregung, die den Künstler auf
den national begrenzten Privatmann reduziert. Es war wenigstens das Gedicht,
das der Aufruhr der Tatsachen aus den Dichtern machte. Der Vorwurf des
Barbarentums im Kriege war falsche Information. Aber das Barbarentum im
Frieden, das in Reimbereitschaft steht, wenn's ernst wird, und das aus dem
fremden Erlebnis einen Leitartikel macht, ist eine nicht wegzutilgende Schmach.
Und schließlich kann sich ein Hodler, der unrecht hat, noch immer neben einem
Dutzend Haeckels, die recht haben, sehen lassen. Und schließlich ist ein
Wutausbruch noch immer kulturvoller als eine Enquete, die die Frage, ob man
Shakespeare aufführen darf, zu dessen Gunsten zu entscheiden die Milde hat.
Deutschlands größter neuzeitlicher Dichter, Detlev v. Liliencron, ein Dichter
des Krieges, ein Opfer jener kulturellen Entwicklung, die vom Siege kam, hätte
wohl nicht das Herz gehabt, sich an die noch rauchenden Tatsachen mit einer
Meinung anzuklammern, und es bleibt abzuwarten, ob unter jenen, die das
Erlebnis dieses Krieges hatten, und jenen, die als Dichter erleben können,
einer erstehen wird, der Stoff und Wort zur künstlerischen Einheit bringt. Was
sich zeigen wird, ist, ob aus der Quantität, zu der vom seelischen Leben keine
Brücke mehr führt, weil sie gesprengt wurde, noch Organisches wachsen kann.
Intelligenzen, die sich, wenn Gefahr droht, behend und bequem in den Riß ihres
Wesens betten, wird's zum Schweinefüttern geben.
Vielleicht war der kleinste Krieg immer eine Handlung, die die Oberfläche
gereinigt und ins Innere gewirkt hat. Wohin wirkt dieser große, der groß ist
vermöge der Kräfte, gegen die der größte Krieg zu führen wäre? Ist er eine
Erlösung oder nur das Ende? Oder gar nur eine Fortsetzung? – Mögen die
Folgen dieser umfangreichen Angelegenheit nicht böser sein als ihre
Begleitumstände, die sie nicht die Kraft hatte, von sich zu treten! Möge es nie
geschehen, daß die Leere mit Berufung auf ausgestandene Strapazen sich noch
breiter macht als bisher, die Faulheit eine Glorie gewinnt, die Kleinheit sich
auf den welthistorischen Hintergrund beruft, und die Hand, die uns in die
Tasche greift, vorher ihre Narben zeigt! Wie war es möglich, daß im Weltkrieg
ein Weltblatt jubilierte? Daß ein Börseneinbrecher sich vor die
Millionenschlacht stellte und in tosenden Titeln für das fünfzigjährige
Bestehen seines ruchlosen Geschäfts Beachtung forderte und fand? Daß Banken im
Moratorium zwar ihren Kunden nicht dienen konnten, aber jenem weit über 400 K
für jede der hundert Annoncen seiner Festnummer bezahlten? Daß im Kanonendonner
die Huldigung von Zeitungsausträgern gehört wurde und das Aufgebot der
Gratulanten wie in einer Verlustliste der Kultur durch Wochen aufmarschierte?
Wie war es möglich, daß in Tagen, wo die Phrase schon zu bluten begann, ihr
letztes Leben an den Tod hingab, sie noch zum Fensterschmuck dienen konnte an
einem Freudenhaus des Freisinns? Daß Fahnen von Schreibern hochgehalten wurden,
wo sie schon auf dem Felde waren, und daß ein Bilanzknecht und Freibeuter der
Kultur sich von einer hochgestellten Bedientenschar als »Generalstabschef des
Geistes« feiern ließ? Möge die Zeit groß genug werden, daß sie nicht zur Beute
werde eines Siegers, der seinen Fuß auf Geist und Wirtschaft setzt! Daß sie den
Alpdruck der Gelegenheit überwinde, in der der Sieg zum Verdienst der Unbeteiligten
wird, die verkehrte Ordensstreberei sich ihrer Ehren entäußert, die gerade
Dummheit Fremdwörter und Speisenamen ablegt und in der Sklaven, deren letztes
Ziel ihr Lebtag war, Sprachen zu »beherrschen«, fortan mit der Fähigkeit durch
die Welt kommen wollen, Sprachen nicht zu beherrschen! – Was wißt ihr,
die ihr im Kriege seid, vom Krieg?! Ihr kämpft ja! Ihr seid ja nicht hier
geblieben! Auch denen, die für das Leben das Ideal geopfert haben, ist es
einmal vergönnt, das Leben selbst zu opfern. Möge die Zeit so groß werden, daß
sie an diese Opfer hinanreicht, und nie so groß, daß sie über ihr Andenken ins
Leben wachse!)
|