3-36. Szene                                                                                                                                                                   Wiener Vortragssaal (Nörgler)

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(Anm. Seine erste Vorlesung aus eigenen Schriften hielt Karl Kraus am 13. Januar 1910 im „Verein für Kunst“ in Berlin. Die Resonanz war derart positiv, dass der in Wien beharrlich Totgeschwiegene sich mit dem Gedanken trug, nach Berlin überzusiedeln. Doch auch in Wien fanden seine Vorträge das Interesse der Zuhörerschaft, was ihn von einem Umzug nach Berlin abhielt. Kraus erzielte durch seine genau 700 Vorlesungen bei seinen Zuhörern die stärksten Wirkungen, er verfügte nicht nur über das nötige rhetorische Rüstzeug, sondern über eine Variationsbreite des Charakterisierens und Porträtierens bis ins letzte Detail durch alle Nuancen, Dialekte und Akzente.)

Nörgler, Zuhörer / Gattin des Zuhörers

Der Nörgler: (Mit der Uhr in der Hand.) »Eines unserer Unterseeboote hat am 17. September im Mittelmeer einen vollbesetzten feindlichen Truppentransportdampfer versenkt. Das Schiff sank innerhalb 43 Sekunden.«

Dies ist das Aug in Aug der Technik mit dem Tod.

Will Tapferkeit noch Anteil an der Macht?

Hier läuft die Uhr ab, aller Tag wird Nacht.

Du mutiger Schlachtengott, errett uns aus der Not!

Nicht dir, der du da dumpf aus der Maschine kamst,


ein Opfer war es, sondern der Maschine!


Hier stand mit unbewegter Siegermiene


ein stolzer Apparat, dem du die Seele nahmst.

Dort ist ein Mörser. Ihm entrinnt der arme Mann,


der ihn erfand. Er schützt sich in dem Graben.


Weil Zwerge Riesen überwältigt haben,


seht her, die Uhr die Zeit zum Stehen bringen kann!

Geht schlafen, überschlaft's. Gebt Gnade euch und Ruh.


Sonst sitzt euch einst ein Krüppel im Büro,


drückt auf den Taster, hebt das Agio,


denn grad flog London in die Luft, wie geht das zu!

Wie viel war's an der Zeit, als jenes jetzt geschah?


Schlecht sieht das Aug, das giftige Gase beizen.


Doch hört das Ohr, die Uhr schlug eben dreizehn.


Unsichtig Wetter kommt, der Untergang ist nah.

Entwickelt es sich so mit kunterbunten Scherzen –


behüte Gott den Gott, daß er es lese!


Der Fortschritt geht auf Zinsfuß und Prothese,


das Uhrwerk in der Hand, die Glorie im Herzen.

Ein Zuhörer (zu seiner Gattin): Man kann sagen auf ihm was man will – eine Feder hat er!