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Vom Mars ins Theater geholt
Serbenhalle Wiener Neustadt 2019
Regie: Paulus Manker

Ob Leben auf dem Mars möglich ist, darüber wird noch lange spekuliert werden. Dass es aber möglich ist, ein Marstheater lebendig zu machen, das hat Paulus Manker mit seiner Aufführung von "Die letzten Tage der Menschheit" in der Wiener Neustädter "Serbenhalle" bewiesen.

"Marstheater", so nannte Karl Kraus seine Erste-Weltkrieg-Tragödie, weil er sie so weit weg von der gängigen Theaterwelt ansiedelte. Den Theatergängern traute er sein Werk nicht zu: "Denn es ist Blut von ihrem Blut und der Inhalt ist von dem Inhalt der unwirklichen, undenkbaren, keinem wachen Sinn erreichbaren, keiner Erinnerung zugänglichen und nur in blutigem Traum verwahrten Jahre, da Operettenfiguren die Tragödie der Menschheit spielten (…). Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen; ich habe gemalt, was sie nur taten." 

Und Kraus malte riesig, schöpfte viel Blut von ihrem Blut in sein Bild, fünf Akte mit Vorspiel und Epilog, 220 Szenen, 1114 Rollen. Da braucht es einen Theaterberserker wie Paulus Manker, einen Hermann Nitsch der Bühne, der sich Theater zu schütten traut, um diesen Mars mit Leben zu düngen, um 100 Jahre nach der Entstehung ein derartiges Monumentalwerk zum Blühen zu bringen. 

Gibt es den kongenialen Spielort für einen Theaterregisseur? Ja. Paulus Manker passt zur "Serbenhalle" in Wiener Neustadt wie einst Max Reinhardt zum Salzburger Domplatz. Nutzte der eine den barocken Schwulst, braucht der andere die industrielle Gigantomanie. 400 Eisenbahnwaggons brachten den Hallenkomplex 1942 als Nazi-Kriegsbeute zum Zweck der Rüstungsproduktion aus Serbien nach Wiener Neustadt. Die 400 Waggons könnten noch heute in die Halle hineingestapelt werden. 

Das ist kein Theater, das ist ein Großstadtbahnhof, ein Dom, ein Schlachtfeld. Und hoch über allem an der Decke hängt ein Schild "Notausgang". Doch in diesem Stück gibt es nur einen Ausgang: die Falltür. Ein Waggon wird hereingeschoben, oder ist es ein Faschingswagen? Die Operettenfiguren beginnen ihr Spiel. Kraus: "Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate." Der Krieg ist auf Schiene. 

28. Juni 1914. Wien Ringstraßenkorso. "Extraausgabee - ! Neue Freie Presse! Die Pluttat von Sarajevo! Da Täta a Serbee!" Die Zeitungsverkäufer knallen die Blätter auf die Kaffeehaustische, an denen das Publikum sitzt. Eine Wienerin mit böhmischem Akzent pflanzt sich vor einem auf: "Ja, mein Lieba, jetz is Krieg, da muss schon a jeda was hergeben!" Stimmt. 

Der Theaterkrieg in der "Serbenhalle" duldet keine Zaungäste. Die Grenzen zwischen Schauspielern und Publikum verschwimmen. Die Dame vis-à-vis, gehört sie zum Ensemble? Die Frisur, die Bluse? Nein, sie hat keinen Strohhut. Oder doch? Sie zückt ihr Handy, jetzt ist es klar. In anderen Aufführungen verpönt und bis auf das eine, das immer läutet, ausgeschaltet, gehört das Handy bei der Manker-Regie zur Besetzung dazu. Das Wischtelefon wird zum Souffleur für Hintergrundwissen. Die sogenannten QR-Codes im Programmheft müssen mit der Handy-Kamera gescannt werden und schon erscheinen Details zum "begnadeten Leitartikler der Neuen Freien Presse" Moritz Benedikt oder welche Rolle Flora Dub beim Begräbnis des Thronfolger-Ehepaars spielte. 

Aber man merkt schnell: "Polydrama" und "Simultantheater", wie Manker es auf die Bühne bringt, ist fordernd. Konfus? Ja. Gerade deshalb passend zu "Die letzten Tagen der Menschheit"? Absolut. Stimmig auch für heutige Tage der Menschheit? Perfekt. So viele Schauplätze, so viele Stimmen, so viele Kammerstücke im großen Spiel. Nur nichts verpassen! Wo sich hinwenden? "Die letzten Wandertage der Menschheit", spottet ein Herr der Wiener Seitenblickegesellschaft, als er zum zweiten Mal der Lokomotive hinterhertrottet, die zur Gstättenwiese vor der Halle fährt, dem Schauplatz für ein Schlachtfeld an der Südwestfront. 

Das Publikum wird zur "embedded audience", eingebettet in die Theaterkompanie, so wie Alice Schalek im Ersten Weltkrieg der Prototyp für den "embedded journalist" wurde, die Kriegsberichterstatterin, die nicht über, sondern aus dem Krieg schrieb. 

Auf die Frage, nach welchem Kriterium er die 75 Szenen für seine Theater-Abend-Nacht ausgesucht hatte, antwortete Manker: "Nach der Sinnlichkeit." Das ist der Grund, warum "die Schalek" das Stück mehr prägt als andere Rollen. In den "Letzten Tagen" ist die Schalek Mankers „Alma“. Am Panzerwagen stehend, proklamiert sie das Credo fürs Marstheater: "Wer wirklich dabei ist, wird vom Fieber des Erlebens gepackt." 

Der kürzlich verstorbene Karl-Kraus-Biograf Edward Timms hatte recht: "Die letzten Tage" sind "ganz bestimmt kein Drama, das für stumme Buchseiten bestimmt ist". Es ist eine Tragödie, die in eine Halle hineingeschüttet gehört, eine Aufführung, in der es nach Eisen riecht, nach Feld, nach Rauch, in der das Wachs der Fackeln auf den Händen klebt und Schweiß auf den Schläfen, und in der das Publikum nickt, wenn die Schalek sagt: "Ich hab noch nie vorher so übermächtig gespürt, was das Hiersein bedeuten kann!“

(Salzburger Nachrichten, 16. Juli 2018)