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»Die letzten Tage der Menschheit«

Es ist kein Theaterstück, kein Schauspiel, kein Drama. Es ist zwar in Akte gegliedert und in Szenen eingeteilt, es enthält Dialoge, Monologe und Massenauftritte; aber es hat weder eine geschlossene Handlung noch einen Helden. Es ist das umfangreichste dramatische Werk über den Ersten Weltkrieg und den Untergang des Habsburgerreiches, das jemals geschrieben wurde. Entstanden während des Krieges in den Jahren 1915 –1917, Erstausgabe 1918/19, umgearbeitet 1920  –1921, Buchausgabe 1922, engültige Fassung 1926: »Die letzten Tage der Menschheit«. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog von Karl Kraus.

Man wird den Absichten des Autors nur gerecht, wenn man nicht versucht, über das Monströse des Werkes hinwegzutäuschen, weil das Stück mit seinen 220 Szenen über jede menschliche Vorstellung hinausgeht. Gerade sein Volumen aber macht die Kraft des Stückes aus, nur zwei oder drei Stunden davon aufzuführen, hieße, es gar nicht aufzuführen. Denn der Autor schuf in dramaturgischem Sinn ein Monster. Und das wusste er selbst. Und gab denen, die versuchen, das Monster für die Bühne zu zähmen, gleich eine Warnung mit: »Die Aufführung des Dramas, dessen Umfang nach irdischem Zeitmaß etwa zehn Abende umfassen würde, ist einem Marstheater zugedacht. Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten.« 

Für tatsächlich aufführbar hielt Karl Kraus seine Tragödie deshalb nicht. Er befürchtete, dass bei einer theatralischen Umsetzung »ein Zurücktreten des geistigen Inhalts vor der stofflichen Sensation wohl unvermeidbar wäre«.Als berühmte Regisseure wie Max Reinhardt oder Erwin Piscator das Stück inszenieren wollten, lehnte er ab, offenbar aus Angst, sie würden daraus ein Unterhaltungsspektakel machen. Das Stück, schrieb Kraus 1921, bediene »sich doch nur des dramatischen Scheins als eines Mittels«ob es viele Szenen habe, »die, selbst mit den besten Schauspielern, auf der Bühne auch nur annähernd das dramatische Leben behalten würden, das sie vor dem verständigen Leser oder dem Hörer einer Vorlesung unschwer gewinnen«, sei zu bezweifeln. Er, der Autor, glaube es nicht. 

»Die letzten Tage der Menschheit« bestehen aus 220 Szenen mit unterschiedlicher Länge. Einige Szenen umfassen Dutzende von Seiten, andere nur wenige Sätze, manche gar nur ein Wort. Es sind Schnappschüsse, dramatisierte Glossen, Momentaufnahmen, deren einziges Thema die Unvernunft ist. Warnend heisst es im Vorwort. »Die Handlung, in hundert Szenen und Höllen führend, ist unmöglich, zerklüftet, heldenlos«, 

Ursprünglich trug das Stück daher auch den Untertitel »Ein Angsttraum«. Denn man sieht darin die Gesellschaft, die den Ersten Weltkrieg gemacht hat, ihn ausnützte, genoß und die Töpfchen ihres Ehrgeizes und ihres Eigennutzes am Flammenmeer schmoren ließ. Man belauscht die Erfinder und Träger der »großen Zeit« in ihrer erschreckenden Dummheit, in ihrem nichtswürdigen Dasein, in ihrer besinnungslosen Grausamkeit und Niedertracht. Man sieht sie brutal vertiert, gewinnlüstern, ich-süchtig der großen Menschheitstragödie nachlaufen und in dem Blut und Kot, den die Kriegsmaschinerie aufwirft, sich mästen und daran belustigen, »in den Tagen, da für Henker und Schieber das goldene Zeitalter anbrach«.

Nicht das Leben an der Front zeigt uns Kraus, wie es so meisterhaft Barbusse und Latzko getan. Er zeigt uns das Hinterland. Er führt uns die Gesellschaft vor, die den Krieg macht, ihn dann genießt, ausnützt und die Töpfchen ihres Ehrgeizes und ihres Eigennutzes an dem Flammenmeer schmoren läßt. Wir sehen in dieser »Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog« die Erfinder und Träger der »großen Zeit« agieren. Wir belauschen sie in ihrem nichtswürdigen Dasein, in ihrer erschreckenden Dummheit, in ihrer besinnungslosen Grausamkeit und Niedertracht. Wir sehen sie ichsüchtig, gewinnlüstern, brutal vertiert der großen Menschheitstragödie nachlaufen und in dem Blut und Kot, den die Kriegsmaschinerie aufwirft, sich mästen und belustigen.

Wir haben den Krieg bislang zu sehr von der Vorderseite aus gesehen. An die Kulisse haben die wenigsten gedacht. Hier wird sie uns in erschreckender Plastik zum erstenmal gezeigt. Was wir bisher von dem Elend gesehen, den Mord und nie Vernichtung ist noch nicht der Krieg in seinem ganzen Umfang gewesen. 

Die zerfetzten Leiber, die im Drahtverhau zappelnden Verwundeten, die Leiden des Schützengrabens, die brennenden Dörfer und Städte, die geplünderten Heimstätten, die entehrten Frauen, die versklavten Männer sind Erscheinungen der Vorderseite jener angeblich gottgewollten Einrichtung. Kraus wendet unsern Blick erbarmungslos zu den noch größeren Greueln der Rückseite. Er läßt uns einen Einblick tun in jenes Getriebe, aus dem das Gift herausgewachsen ist, und zeigt uns, wie dieses belebend auf die Mikroben der Fäulniserregung einwirkt. Er zeigt uns, wie der aufgewirbelte Schlamm sich an der Sonne lieblich färbt, der Eiter in Gold erglänzt, der Kot sich als Edelstein gibt. Man faßt sich bei der Lektüre dieses Werkes an den Kopf und sagt sich kleinlaut: Wir haben bisher falsch gesehen, unsere Anschauung vom Krieg war Irrtum; Dieser hat erst das Land des Krieges entdeckt, an dessen Küsten wir bislang herumirrten. Dieser lehrt uns sehen. In Karl Kraus', des Wieners, »Letzte Tage der Menschheit« sehen wir den Krieg zum ersten Mal von allen Seiten.

Wie fange ich es an, nur anzudeuten, was sich auf diesem Film von 639 Seiten vor uns abrollt?

Kraus' Werk ist kein Drama, kein Theaterstück, wie der Titel vermuten läßt. Es ist zwar in Szenen eingeteilt und Akte, enthält Dialoge, Monologe und Massenauftritte; aber es hat weder eine geschlossene Handlung, noch einen Helden, es hat keine Entwicklung und Lösung. Es enthält nur Bilder, die bald da, bald dort von der Kurbel eines großen Psychologen festgehalten wurden. Hunderte von Aufnahmen. 

Bald führen sie uns in das fashionable Schieberkaffee, wo besorgt um einen älteren Mann die Familie und der Wirt sich bemühen, um dem Verzweifelten Trost zuzusprechen, der eben die Nachricht bekommen hatte, daß Friedensverhandlungen im Gang seien. Und erst als diese Nachricht als falsch sich erweist, tritt wieder Erholung bei ihm ein. »Gottlob!« löst es sich von aller Lippen; Gottlob, der Krieg geht weiter!

Bald führt uns der Verfasser eines jener berühmten Liebesmähler in einem Hauptquartier hinter der Front vor, wo unter dem von der Ferne ertönenden Grollen der Kanonen gepraßt und gewitzelt wird, wobei die Offiziere ihre Erlebnisse bei Hinrichtungen Unschuldiger zum besten geben, die sie in den Tod geschickt haben, weil es ihnen notwendig schien, »ein Exempel zu statuieren«. Der Kanonendonner rückt näher, die Telephonoffiziere melden Rückzug, Durchbruch der Front, Meuterei und Auflösung des Heeres, die lustige Gesellschaft säuft, singt, praßt weiter, bis sie schließlich die Flucht ergreift und nur die Schwerbezechten am Schauplatz verbleiben. — 

Man sieht die Szenen, in denen die »Wohltäter« der Kriegszeit in ihrer Nacktheit geschildert werden, wie sie sich drängen, um von den Reportern »bemerkt« zu werden, wie sie nach der Gunst der Hohen kriechen und angesichts der zerschossenen und geblendeten Krüppel nach Titeln, Stellungen und Ehrungen krebsen, und wie sie sich zu Tode grämen über den »Erfolg« ihrer »Konkurrenten«. — 

Dann sehen wir die Ärzte, die, um sich selbst vor der Front zu retten und warm im Hinterland bleiben zu können, die Schwindsüchtigen, Herzkranken, vom Fieber Zerrütteten mit dem Makel des Schwindlers abgestempelt dem Moloch der Front in den Rachen werfen. 

Neben ihnen erblicken wir die Diener der Justiz, die, um nach oben zu gefallen, dem Galgen unaufhörlich Material zuschieben die, »im Interesse des Vaterlandes« natürlich, Unschuldige bewußt morden und sich dann noch mit dem am Galgen baumelnden Opfer frohgemut und in bester Laune photographieren lassen. (Eine Abbildung »ziert« dieses Buch, die allein schon ein wertvolles Kulturdokument ist: Es ist die Reproduktion einer Photographie, die uns den aufgehängten österreichischen Abgeordneten Battisti zeigt, zu dessen Häupten der robuste Henker lächelt, und um den herum sich Offiziere drängen, damit auch ihr Konterfei auf die Platte gelange.) — 

Wir sehen die Journalisten und Literaten, die sich von dem Opfer der Schlacht loskaufen, indem sie für die Hölle draußen Stimmung machen, und die sich lieber von einem Kommißknopf schuriegeln lassen, als die Vorzüge der »großen Zeit«, die sie preisen, an der Quelle zu genießen. 

Die Gefangenen sehen wir, die menschenunwürdig gepeinigt und getötet werden, denen dann derselbe Offizier, der sie geknechtet, kurz vor der Entlassung Liebe und Verständnis für das eigene Land beibringen will, »im Interesse des künftigen Handelsverkehrs« mit ihrem Volke. 

Wir sehen die Kaiser und ihre Marschälle im Schlafrock und in ihrer Menschlichkeit, sehen die von den Phrasen ihrer Zeitungen trunken gemachten Zeitungsleser, die sich über alle Ungerechtigkeiten und Unbilden, über alle tierischen Niedrigkeiten empören, die ihnen — über die Gegenseite gemeldet wurden. Köstlich sind diese Dialoge der Leser, die durchaus aus Zeitungsphrasen bestehen, und tiefsinnig die Szene, in der ein sogenannter »ältester Abonnent« an einem Leitartikel seines Leibblattes stirbt, als letzte Worte den Satz ausstoßend: »Es rieselt im Gemäuer.« — 

Wir sehen den Kampf der Drückeberger um die Befreiung vom Dienst mit der Waffe, den Wettkampf der Dichter um den Lorbeerkranz des »Patrioten« bei gleichzeitigem Verzicht auf ihre Menschenwürde, wir sehen die Kinder, die in Rede und Gebärde, ihre schiebenden, und von Vaterlandsergebenheit nur so triefenden Eltern kopieren, und wir sehen die vertrottelten Offiziere des Hinterlandes, die durch die ganzen 5 oder 6 Akte hindurch nur über ein Repertoire der immer gleichen fünf Sätze verfügen, die immer mit einer Aufforderung zum Saufgelage oder zur Hurerei endigen. 

Mitten durch das Ganze laufen die Dialoge des »Optimisten« und des »Nörglers«, als den sich der Verfasser selbst gibt, dabei zu den Ereignissen und zu den von ihm vorgeführten Bildern den Kommentar liefernd.

Das ist nur eine kurze Andeutung der Behandlung des großen Stoffes einer »Dichtung«, wie noch nie eine so innig mit der Wirklichkeit verbunden war. Wo es sich nicht um Erfindungen handelt, die als Beispiele für die Geistesbeschaffenheit gegeben wurden, liegen allen Darlegungen tatsächliche Ereignisse zugrunde, die oft nur Wenigen bekannt wurden.

Man wird dieses Werk gelesen haben müssen, wenn man künftig gegen den Krieg wird wirken wollen. Ich stehe nicht an, es zu den höchsten Schöpfungen der Geistigkeit zu zählen, zu jenen Büchern der Menschheit, die Ewigkeitswert besitzen. 

Wohl wird das Lesen dieses Werkes nicht leicht werden. Das Lokalkolorit, das ihm seinen Wert gibt, weil es zur Darstellung des Wahren unentbehrlich ist, bereitet für die nicht mit der Örtlichkeit, ihren Menschen und deren Sprache Vertrauten starke Hindernisse. Nur der Österreicher wird es ganz verstehen. Selbst für die meisten nicht-österreichischen Deutschen wird es Schwierigkeiten bieten und wird sie oft über Perlen hinweglesen lassen, die ihnen als Unkundige der Örtlichkeit nicht auffallen. Nicht-Deutsche werden nur in den seltensten Fällen sich hineinleben können; eine Übersetzung erscheint mir aber unmöglich. 

Man wird jedoch Kommentare zu diesem Werk schreiben müssen, um die Weltverbreitung zu sichern, die es verdient. Die Arbeit wird sich lohnen. Vorläufig mögen aber jene, die in die Wüste der Kriegspsyche und Kriegsbestialität einzudringen verlangen, sich mit dem begnügen, das ihnen verständlich sein wird.